Es ist Dezember 2010. Vor ein paar Wochen habe ich meinen 45.Geburtstag gefeiert. Heute schlendere ich mit meiner Frau über einen Weihnachtsmarkt in Berlin. Ich sehe die üblichen Buden. Bratwürste und Gebrannte Mandeln wechseln den Besitzer. Ein Inder preist seine Hüfttaschen an und natürlich dürfen auch die unvermeidlichen Thainudeln nicht fehlen.
Inmitten des erwarteten Allerlei entdecke ich einen Bretterverschlag aus dunklem, unbehandeltem Holz. Ein schwerer Vorhang mit mystischen Zeichen und Fabeltieren hängt vor dem Eingang. Darüber ein Schild: „Willst Du eine Reise in Deine Zukunft machen?“ Schon viele Male habe ich ähnliche Buden gesehen. Ich weiß nicht warum, aber heute ist es anders als sonst: diese Bude zieht mich in ihren Bann. Ist es das Holz? …der Vorhang? …das Schild? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: ich muss da jetzt rein! Mit einem „Schatz, ich lass mir jetzt meine Zukunft vorhersagen!“ steuere ich auf den Eingang zu. Hinter mir höre ich noch: „Na dann… viel Spaß!“

Ich lüfte vorsichtig den Vorhang, denn ich habe keine Ahnung, was mich hier erwartet und ich möchte niemanden erschrecken oder stören. Ein angenehmer Duft von Räucherkerzen erreicht meine Nase. In dem gedämpften Licht entdecke ich schräg vor mir eine Dame sitzen. Zwei blaue, lebendige Augen schauen zu mir hinüber. „Komm und setz Dich.“ sagt eine milde und wissende Stimme. Eine einladende Handbewegung weist auf den ihr gegenüberliegenden Platz an einem kleinen Tisch. Ich zwinge mir ein schüchternes „Hallo!“ ab und lasse mich auf einem Holzschemel nieder. Fasziniert entdecke ich die Schönheit meiner Gastgeberin. Sie hat ganz sicher ihren siebzigsten Geburtstag hinter sich. Tiefe Linien durchziehen ihr Gesicht und zeugen von intensiv gelebtem Leben. Ihr dezentes Lächeln unterstreicht die elegante Struktur ihr schlanken Erscheinung. Die schneeweißen Haare hat sie mit einem bunten Kopftuch gebändigt. Eine weit geschnittene Leinenbluse zeigt sich unter einer reich bestickten Weste. Die Ausstrahlung dieser Frau füllt den kleinen Raum und zieht mich sofort in ihren Bann. Ihr fester Blick mustert mich interessiert.
„Was führt Dich zu mir?“
„Ich weiß es nicht.“ entgegne ich ihr.
Sie lächelt ein kleines bisschen mehr. Ihr wacher Blick durchbohrt meinen Kopf und schaut direkt in mein Unterbewusstsein. Sie war in jungen Jahren sicherlich eine sehr attraktive Frau, denke ich. Erst jetzt fallen mir ihre riesigen Kreolen auf, die an beiden Seiten ihres Kopfes herunterhängen.
„Du bist neugierig.“ sagt sie leise. „…neugierig, wo Dich Dein Weg hinführt.“
„Ja, …irgendwie schon.“ stammle ich unsicher. „Aber…, eigentlich will ich es gar nicht wissen. Ich lasse mich gerne überraschen.“
Lächelt sie jetzt noch ein bisschen mehr? In dem diffusen Licht des engen Raumes ist eine fast feierliche Stimmung. Das flackernde Licht vieler Kerzen zaubert wechselnde Schatten auf das Gesicht der Wahrsagerin. Sie lockert ihren Blick und schaut nun auf eine zwischen uns stehende Glaskugel. Ich hatte die Glaskugel bis zu diesem Moment nicht bemerkt. Fasziniert beobachte ich nun ihr Innenleben. Kleine Wolken wälzen sich in den verschiedensten Farben durcheinander, verschwinden und bilden sich neu. Die handballgroße Kugel thront auf einem ausgehöhlten Quarzstein.
„Du bist Sebastian.“ höre ich die Wahrsagerin sagen.
Glasklar ist plötzlich mein Bewusstsein und messerscharf meine Gedanken. „Achtung!“ schreit mein Alarmsystem – „Da sitzt eine Betrügerin vor Dir!“
„Eine wunderbare Reise habt ihr im August gemacht.“
Ok, das ist nicht schwer zu erraten. Wir sind schließlich nicht die einzigen Menschen, die im August verreisen, denke ich.
„Diese alte Straße hat schon viele in ihren Bann gezogen. Und für Amerikaner ist sie noch immer ein Symbol für Freiheit und Abenteuer.“
„WAS…..??“ platzt es aus mir heraus.
„Du liebst die Freiheit, nicht wahr?“ Die Augen der Wahrsagerin durchbohren mich wieder. Ihr Blick ist fest auf mich gerichtet. Sie schweigt und wartet.
„Ähh… ja. Ja! Freiheit ist mir wichtig. SEHR wichtig!“
Während die Worte meinen Mund verlassen, versuche ich zu verstehen, woher sie wissen könnte, dass ich mit meiner Frau im August die USA auf der Route 66 durchquert hatte. Zufall? Während ich nach logischen Argumenten suche, setzt die Wahrsagerin zu einem neuen Satz an.
„Du wirst Deine Freiheit ganz intensiv erleben! Möchtest Du wissen, wo Dein Leben Dich hinführt?“
Während meine Gedanken einen Salto machen, höre ich meine Stimme sagen: „Ja, auf jeden Fall!“
Die Wahrsagerin blickt auf die Kugel. Ihre schlanken, eleganten Hände bewegt sie nun langsam kreisend über der Kugel. Sie schließt ihre Augen und schweigt. Nach kurzer Zeit beginnt sie unverständliche Worte zu murmeln.
Ich suche noch immer nach einer logischen Erklärung. Mein Verstand meldet sich: „Hau ab – solange noch Zeit ist.“ Ich kann nicht. Mein Hintern befindet sich in einem Schraubstock. Ich bewege mich keinen Millimeter und starre fasziniert die Kugel an.
„Du wirst eine lange Wanderung machen.“ höre ich mein Gegenüber sagen. „…von Berlin nach Venedig.“
Meine Gedanken legen einen eleganten Senkrechtstart hin: „Ok, Schmidt – Du hattest Deine Chance. Jetzt sitzt Du hier und nun musst Du hier durch.“
Ich sage: „Eine Wanderung? …Sicher?“
„Ja, ganz sicher. Und ein paar Jahre später wirst Du auf einem Fahrrad die ganze deutsche Grenze entlang fahren.“
Jetzt wird sie komisch – denke ich mir. Ich habe mal ein paar Tageswanderungen gemacht und vielleicht habe ich irgendwann mal auf einem Fahrrad 30 Kilometer am Stück zurückgelegt. Das war es dann aber auch.
„Du wirst an die Nordsee ziehen.“ Einen Moment lang starrt sie schweigend in die Kugel. Auf ihrem Gesicht tanzen die Farben, die in der Kugel wild durcheinander wirbeln. „Ich sehe ein Hotel auf einem Deich. Ein wunderschönes Gebäude.“
Ein Haus auf einem Deich – na klar… So was Dämliches hatte ich schon lange nicht mehr gehört.
„Du bist der Chef, Sebastian! Und Deine Frau ist bei Dir. Sie ist Deine Assistentin.“
Hoteldirektor? Ich? Ich habe in bestimmt tausend Hotels geschlafen, aber nie in einem Hotel gearbeitet. Ihre zügellose Fantasie beginnt mir zu gefallen. Hier bahnt sich eine Story an, die ich abends beim Rotwein immer wieder erzählen kann. „Erzähl mir mehr…“ fordere ich sie heraus. „Du verkaufst Dein Auto. Zur Arbeit läufst Du oder fährst mit dem Rad. Du bist Chef in einer großen Produktion. Die bauen da so Elektrokram. Glücklich bist Du da nicht.“
Ich hänge an ihren Lippen.
„Du lässt Dich zum Coach ausbilden. Ich sehe Dich weinen. Und Lachen. Du lernst Dich kennen – so wie Du Dich noch nie kanntest.“
„Nochmal langsam zurück: Ich werde Hoteldirektor und dann verkaufe ich mein Auto und leite eine Fabrik?“
Die Wahrsagerin löst ihren Blick von der Kugel und schaut mir wieder fest in die Augen. Ihr Blick ist nun ein bisschen ungeduldig. „Nein, umgekehrt. Die Bilder Deiner Zukunft wirbeln durcheinander. Das ist ganz normal.“
„Verstehe…“ entgegne ich vorsichtig.
Wie konnte ich eine so unsinnige Frage stellen?
„Du wirst erkennen, dass Glück eine Entscheidung ist und nichts mit Geld, einem Job oder einem bestimmten Ort zu tun hat.“
Nach einer kurzen Pause setzt sie fort: „In einem japanischen Konzern versuchst Du Deine neuen Ideen von Unternehmensführung umzusetzen. Der Chef feuert Dich.“
Japanischer Konzern? Ich sehe mich ganz kurz in einem Kimono durch die Gegend flitzen. Doch die Wahrsagerin ist nun in Fahrt gekommen und legt nach.
„Du sprichst über >New Work<. Vor vielen hundert Menschen.“
„Was bedeutet >New Work<?“ frage ich.
Die Wahrsagerin schaut mich an: „Woher soll ICH das wissen?“
„Ich dachte Du bist hier die Expertin für ungelegte Eier.“ antworte ich etwas rotzig und ernte dafür einen vorwurfsvollen Blick.
Wieder starrt sie auf die Glaskugel. Ihre Stirn schlägt Falten. Ihr Blick wirkt skeptisch. „Das verstehe ich nicht…“
„Was verstehst Du nicht?“ hake ich nach.
„Jetzt wohnst Du in der Nähe vom Harz…“
„Aha.“ Es reicht jetzt. Ich fange an, mich unwohl zu fühlen. Während die Wahrsagerin noch immer die Kugel fixiert, stehe ich vorsichtig auf. Sie ist so stark konzentriert, dass sie es offenbar gar nicht bemerkt.
Ich ziehe aus meinem Portemonnaie einen Zwanzig-Euro-Schein und schiebe ihn unter eine kleine Holztruhe, die auf dem Tisch steht.
Noch immer nimmt die Wahrsagerin keine Notiz von mir.
„Danke für Deine Zeit.“ sage ich und warte einen kurzen Moment auf eine Reaktion. Als nichts passiert, gehe ich langsam in Richtung Vorhang. Ich schiebe den Vorhang beiseite und will gerade durch den Ausgang schlüpfen, als ich plötzlich die Wahrsagerin hinter mir höre: „Ich wünsche Dir viele berührende Momente bei der Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn und auf Deinen Reisen nach Kanada, Sri Lanka, Vietnam und Kuba!“ Ich schaue über meine Schulter zurück. Zwei unglaublich lebendige Augen fixieren mich. „Und auch die Reisen in Eurem Wohnmobil werden Euch sicherlich verzaubern. Der Weg ist das Ziel!“ sagt sie und lächelt. Für einen kleinen Augenblick stoppt die gesamte Welt. Bewegungen frieren ein. Geräusche verstummen. Stille. Unsere Seelen begegnen sich. Unbeschreiblich…
Hinter mir schaukelt der Vorhang in seine Ausgangslage zurück. Ich stehe vor dem Bretterverschlag und versuche, im „Hier und Jetzt“ anzukommen. Gedanken und Geräusche sortieren sich. Mein Betriebssystem versucht das Programm „Alltagsroutine“ zu starten. Es braucht einige Zeit bis ich begreife, dass ich mit meiner Frau auf einem Weihnachtsmarkt bin. Mein Gehirn startet eine Suchanfrage: „Wo ist meine Frau?“ und lässt Kopf und Augen einen automatisierten Scanvorgang vollziehen. Gegenüber, an einer Glühweinbude bemerke ich eine aufgeregt winkende blonde Frau – Treffer. Ich steuere auf Janine zu und schaue in ihr irritiertes Gesicht. „Du siehst aus, als ob Dir ein Geist begegnet wäre!“, höre ich sie sagen und in ihren Worten schwingt die Frage mit: „Was ist da drinnen passiert??“
„Alles gut…“ entgegne ich ihr. „Wir ziehen an die Nordsee und leiten ein Hotel. Ich verkaufe mein Auto, halte Reden über moderne Arbeitsmethoden und mache eine Ausbildung zum Coach.“ Während sich Janines Blick langsam aufhellt, lege ich nach: „Ich wandere von Berlin nach Venedig, fahre mit einem Fahrrad die Deutsche Grenze ab. Irgendein Typ schmeißt mich aus einer japanischen Firma. Ich fahre mit der Transsibirischen Eisenbahn, reise nach Vietnam, Sri Lanka und Kanada. Dann ziehen wir in den Harz und fahren mit einem Wohnmobil durch die Gegend.“ Einen Moment lang schauen wir uns tief in die Augen. „Ach, ja: Kuba. Ich habe Kuba vergessen. Da geht es auch noch hin.“ Wir fangen beide an zu lachen. Ein Lachen, in das wir uns immer weiter hineinsteigern. Tränen der Freude laufen über meine Wangen. Herrlich.
Nun ist März 2020. Ich schaue auf die letzten zehn Jahre zurück. Unfassbar – JEDES WORT der Geschichte ist wahr geworden! Eines hat allerdings nie stattgefunden: der Besuch bei einer Wahrsagerin. Hätte mir damals irgend ein Mensch vorhergesagt, wie mein Leben verlaufen würde, ich hätte ihn sicherlich für komplett verrückt erklärt.
Was habe ich gelernt?
Das Leben hat immer recht und es ist völlig unmöglich, vorherzusagen was als nächstes passieren wird. Dabei ist aber wichtig: Es gibt keine Zufälle! Ich beeinflusse mit meinen Entscheidungen ALLES was geschieht. Und jeder andere Mensch tut das auch! Immer dann, wenn wir das komplexe Gewusel aus Entscheidungen und deren Folgen nicht überblicken können, nennen wir das Ergebnis „Zufall“.
Ich freue mich auf die nächsten zehn Jahre. Vielleicht sollte ich mal zu einer Wahrsagerin gehen? 🙂